Mythos Otto der Große – Was bleibt?

Wegbereiter Europas, frommer Kaiser, Förderer der Wissenschaften und Künste, Kriegsherr – in der heutigen Geschichtsschreibung ist Otto der Große nicht unumstritten. Zweifellos lässt sich jedoch sagen, dass er der Landeshauptstadt Magdeburg ein großes Erbe hinterlassen hat.

Prof. Dr. Matthias Puhle, langjähriger Direktor der Magdeburger Museen, ehemaliger Beigeordneter des Dezernats für Kultur, Schule und Sport und Mitglied im Kuratorium der Kulturstiftung Kaiser Otto ist Experte auf dem Gebiet der mittelalterlichen Historie und erklärt den Mythos „Ottos des Großen“. Eine Spurensuche…

Warum inspiriert die Beschäftigung mit Otto I. auch noch nach Jahrhunderten?

Prof. Puhle: Otto der Große zählt ohne jede Frage zu den herausragenden Gestaltern Deutschlands und Europas im frühen Mittelalter in der historischen, aber auch in der heutigen Perspektive. Darüber hinaus besaß er eine überragende Bedeutung für die Stadt Magdeburg. Seine Grablege befindet sich noch heute im Magdeburger Dom. Zahlreiche Orte im Stadtbild erinnern an den bedeutenden mittelalterlichen Herrscher.

Die höchste und wichtigste Auszeichnung der Landeshauptstadt Magdeburg, der Kaiser-Otto-Preis, geht auf Otto I. zurück. Wie vereinen sich die Aussage in der Präambel zum Kaiser-Otto-Preis, in der Frieden und Völkerverständigung priorisiert werden und die kriegerischen Auseinandersetzungen mit denen Otto der Große seine Machtansprüche geltend machte?

Prof. Puhle: Auf der Einschätzung, dass die mittelalterliche Geschichte Europas für unsere Gegenwart im Europa des 21. Jahrhunderts eine nicht unerhebliche Rolle spielt, beruht auch der Kaiser – Otto – Preis der Landeshauptstadt Magdeburg. In der Präambel der Satzung wird festgehalten, dass Otto der Große „als Herrscher und Mittler der Kulturen zu den hervorragenden Wegbereitern der europäischen Staatenwelt“ gehört. Deshalb wird der Preis laut Satzung an „Persönlichkeiten, Personengruppen oder Institutionen verliehen, die sich … in hohem Maße um die Verständigung unter den europäischen Völkern verdient gemacht haben“.

Wenn man diese in seiner Zeit „normale“ Gewaltanwendung kritisieren und die Frage stellen würde, ob ein solcher Herrscher Namensgeber für einen Preis sein kann, in dem es um Frieden und Verständigung im heutigen Europa geht, würde man ahistorisch argumentieren und verkennen, dass Herrschaft im frühen Mittelalter ohne diese Gewaltmittel nicht erfolgreich sein konnte. Mindestens genauso kritisch müsste man ansonsten auch den Aachener Karlspreis beurteilen.

So ist es ebenfalls kaum möglich, uns Otto dem Großen mit den Moralvorstellungen unserer Zeit zu nähern und ihn für seine Handlungen zu loben oder zu tadeln. Diese Form von wertender Geschichtsschreibung gab es vor allem im 19. Jahrhundert und in den ideologiegetriebenen Staaten des 20. Jahrhunderts. Aus diesen Zeiten stammen Urteile wie „Slawenschlächter“ oder Sätze wie „In der Kraft ihrer germanischen Herkunft, in der Macht ihres gottnahen Weltauftrags sind sie unsere Helden: König Heinrich und Kaiser Otto“. Die moderne Geschichtsschreibung enthält sich bei Themen der Vormoderne moralisierender Urteile, bewertet vielmehr Strukturen und Ereignisse und sieht die handelnden Personen in ihrer Zeitgebundenheit.

Otto der Große war ein Herrscher des 10. Jahrhunderts. Er konnte ähnlich wie der andere Kaiser des frühen Mittelalters, der ebenfalls den Beinamen „der Große“ erhielt, nämlich Karl der Große (768-814), nur in einer Mischung von „konsensualer Herrschaft“, wie die moderne Geschichtswissenschaft den konsenssuchenden Herrschaftsstil heute nennt, und der mehr oder weniger permanenten Bereitschaft, Krieg zu führen, Herrschaft ausüben, wobei längst nicht alle Feldzüge das Ausmaß der berühmten, blutigen Lechfeldschlacht von 955, in der er den Ungarn eine vernichtende Niederlage beibrachte, besaßen.

Den Konsens mit dem hohen Adel und Klerus so oft wie möglich zu suchen, war für die Herrscher des Mittelalters notwendig, da sie nicht die Machtmittel besaßen, um gewissermaßen „absolut“ zu regieren, wie es in der Neuzeit möglich wurde. So gab es im frühen Mittelalter kein stehendes Heer, das jederzeit durch den Kaiser mobilisierbar war. Er benötigte die Ressourcen der „Großen“, um Krieg zu führen. Größere Feldzüge wurden in der Regel auf Hoftagen besprochen, auf denen der Kaiser die Zustimmung und Unterstützung der „Großen“ einholen musste. Krieg zu führen, war oft notwendig, da es keine allgemein anerkannte Friedensordnung in Europa und die Unverletzlichkeit der staatlichen Grenzen gab. Otto der Große führte nördlich der Alpen kaum Eroberungskriege, sondern in aller Regel Kriege, die der Grenzsicherung im Reich und der Eindämmung von Konflikten diente. In den ersten Jahren seiner Herrschaft, also ab 936, sah er sich auch mit einer Reihe von Aufständen im eigenen Reich konfrontiert, die von Teilen der eigenen Familie angeführt wurden. Diese Aufstände wurden blutig niedergeschlagen. Dabei kam es auch zu Hinrichtungen der Mitverschwörer. Die Familienangehörigen wurden am Leben gelassen und auf andere Weise bestraft.

Nach der Kaiserkrönung 962 zum römischen Kaiser wurde er auch Herrscher des italischen Reichs, das nicht ganz die Ausdehnung des heutigen Italiens besaß. Die Kriege, die er dort bis zu seinem Tod 973 führte, dienten im Wesentlichen der Durchsetzung seiner Herrschaft in Italien.

Wie lässt sich die Persönlichkeit Ottos I. beschreiben?

Prof. Puhle: Es ist schwierig, sich ein konkretes Bild von Otto und den Persönlichkeiten, die ihm nahe standen, zu machen, etwa seinen beiden Gattinnen Editha und Adelheid, seinem Vater König Heinrich I. und seiner Mutter Mathilde oder seinem Sohn und Nachfolger Otto II. und dessen aus Byzanz stammender Frau Theophanu. Von niemandem haben wir porträtartige Darstellungen, weil das frühe Mittelalter noch keine Porträts kannte. Alle Darstellungen sind schablonenhaft und ganz auf die Position und Rolle der Dargestellten zugeschnitten und tragen keinerlei individuelle Züge.

Auch die Frage nach der Persönlichkeit und dem Charakter Ottos und seiner Zeitgenossen lässt sich nur schwer beantworten. Für diese Frage geben die schriftlichen Zeugnisse in der Regel ebenfalls nicht viel her. Die zeitgenössischen Chronisten Roswitha von Gandersheim etwa oder Widukind von Corvey schildern Otto d. Großen als eine hochverehrungswürdige Persönlichkeit und daher in keiner Weise objektiv. So müssen wir den Charakter Ottos aus seinen Handlungen herauslesen, was natürlich nur bruchstückhaft gelingen kann und wahrscheinlich auch fehlerbehaftet ist. Hier können wir sehr gut und mit noch mehr Berechtigung die Charakterisierung des 14. Jahrhunderts, die von der amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman stammt, auf das 10. Jahrhundert anwenden. Sie nannte ihr Buch über das 14. Jahrhundert „Der ferne Spiegel“.

Welche Verdienste für die Entwicklung der Stadt Magdeburg gehen auf Otto den Großen zurück?

Die Stadt Magdeburg hat besonderen Grund, sich auf Otto den Großen als Förderer und eigentlichen Gründer der Stadt zu berufen und die Erinnerung an ihn wachzuhalten. Kaum war er nach dem Tod seines Vaters Heinrich I. im Jahr 936 König geworden, begann er aus der kleinen Grenzsiedlung an der Elbe einen zentralen Ort für seine Herrschaft zu errichten. Er gründete das Reichskloster St. Mauritius, förderte durch Münz-, Markt- und Zollprivilegien die Stadtentwicklung, und drang beim Papst darauf, in Magdeburg ein Erzbistum zu errichten, wodurch die Stadt zur „Metropole“ werden würde, was 968 nach der Überwindung vieler Widerstände schließlich gelang. Neben dem Mauritiuskloster entstand auf dem Domplatz der ottonische Dom, in dem Otto der Große und seine erste Frau Editha beigesetzt wurden. Auch nach dem Brand dieses Domes 1207 gingen diese Grablegen nicht verloren, sondern fanden ihren würdigen Platz in der neu errichteten gotischen Kathedrale, wo sie sich bis heute befinden. Fest steht: Das Erzbistum Magdeburg hätte es ohne Otto den Großen nicht gegeben. Das Magdeburger Recht, das in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts von dem bedeutenden Erzbischof Wichmann auf den Weg gebracht wurde und sich um 1500 in rund 1000 europäischen Städten vorwiegend in Ostmitteleuropa durchgesetzt hatte, fußte auf den Privilegien Ottos des Großen und seiner Nachfolger Otto II. und Otto III. und konnte auch durch die Strahlkraft des Erzbistums eine solch durchschlagende Wirkung entfalten.

Auch nach dem Ende des Erzbistums und trotz der Zerstörung Magdeburgs im dreißigjährigen Krieg behielt die Stadt ihre zentralörtliche Funktion in den folgenden Jahrhunderten bei, was am Ende dazu beigetragen hat, dass Magdeburg 1990 Hauptstadt des neu gegründeten Bundeslandes Sachsen-Anhalt wurde.

Die Erinnerung an Otto den Großen und seine Gattin Editha wurde trotz aller Wechselfälle der Geschichte in Magdeburg von Generation zu Generation bis heute weiter getragen, was in jüngster Zeit durch die Namensgebung der neuen Pylonbrücke über die alte Elbe nachdrücklich unter Beweis gestellt wurde. Die beiden Brückenabschnitte erhielten nach einer Umfrage in der Bevölkerung die Namen „Kaiser-Otto-Brücke“ und „Königin-Editha-Brücke“.